Frauen, die sich auf Abenteuer einließen, ein selbstständiges und unabhängiges Leben führten, gab es im 19. Jahrhundert selten. Voraussetzung für die Unababhängkeit war - soviel hat sich bis heute nicht geändert - ein eigenes Einkommen. Da Frauen ein solches nur selten wirklich über einen eigenen Beruf erwerben konnten, blieben da nur Frauen übrig, die durch ein Erbe ein gewisses Auskommen besaßen und nicht aus finanzieller Not heiraten mussten.
Eine liberale Familie
Eine Frau, die durch ihre Familie begünstigt wurde, war Hester Lucy Stanhope, die am 12. März 1776 in England geboren wurde. Ihre Familie dachte für die Zeit sehr modern. So begeisterte sich ihr Vater, seines Zeichens ein "Earl of Stanhope", also ein Graf, für die Ideen der Französischen Revolution. Er war als Erfinder erfolgreich und dachte sehr liberal. In diesem Sinne erzog er auch seine Tochter Hester. Ihr Onkel war übrigens der berühmte englische Politiker William Pitt der Jüngere. Schon als junges Mädchen erwies sich Hester als äußerst intelligent. Sie arbeitete als Haushälterin eben bei diesem Onkel, William Pitt dem Jüngeren (1759-1806), der zweimal Premierminister von Großbritannien wurde.
Hester ging in den Libanon
1806 starb William Pitt und Hester verlor ihre Stellung. Doch was sollte sie als mittlerweile 30-jährige Frau tun? Du musst wissen, dass eine Frau mit 30 Jahren im 19. Jahrhundert nicht mehr in einem heiratsfähigen Alter war. Aber heiraten wollte Hester gar nicht. Sie hatte ganz andere Vorstellungen für ihr Leben und machte sich auf den Weg in Richtung Osten, genauer gesagt in Richtung Libanon. Jetzt war der Libanon auch zu dieser Zeit kein Ort, an dem es besonders frauenfreundlich gewesen ist. Trotzdem lebte Hester hier fast 30 Jahre in einem Bergkloster gar nicht so schlecht und machte sich einen Namen über die Grenzen des Libanon hinaus.
Die "Königin der Wüste"
In diesem Kloster herrschte sie wohl wie eine Königin. Sie betätigte sich als Architektin, indem sie den Garten anlegte und diesen ganz nach ihren exotischen Vorstellungen gestaltete. Sie liebte Pferde und Katzen und ritt gerne durch die Wüste. Viele Geschichten wurden über sie erzählt. Vor allem die britische Klatschpresse wusste so einiges über das Leben der "Königin der Wüste" oder der "Mystery Lady of the Orient" zu erzählen. Eine Frau, die derartig selbstbestimmt und exotisch lebte, war für den britischen Adel nicht tragbar. Viele neideten Hester auch ihre Unabhängigkeit.
Sie traf Scheichs und Schwerverbrecher
Lady Hester gebärdete sich wie eine Königin. Sie empfing die Herrscher des Ostens, umgab sich aber auch mit Ausgestoßenen, mit Verbrechern, sogar - wie es heißt - mit Mördern. Was die feine Gesellschaft davon hielt, war ihr völlig gleichgültig. Doch solch ein extremes Leben forderte auch seinen Preis. Hester wurde mit zunehmenden Alter krank und schwächlich und irgendwann ging ihr dann wohl auch das Geld aus. Sie versuchte ihren Besitz und ihre Kostbarkeiten zu verkaufen, konnte sich aber damit auch nicht retten. So starb sie verarmt in dem Land ihrer Wahl im Jahr 1839 mit 63 Jahren. Doch hatte sie bis zu ihrem Tod ein selbstbestimmtes Leben geführt.